Teil II: 50 Jahre Stadt Dormagen – 100 Jahre Stadtentwicklung
Mit Ansiedlung der chemischen Industrie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts begann eine rasante städtebauliche Entwicklung in unserer Stadt. Insbesondere jedoch mit der Entscheidung, das Dormagener Chemiewerk in den frühen 1950er-Jahren als integralen Bestandteil des Bayerkonzerns zu belassen – im Rahmen der sogenannten „Entflechtungsverhandlungen“. Diese Entwicklung betraf grundsätzlich sämtliche Dormagener Stadtteile, allerdings in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung. Werksnahe Siedlungskörper wie Horrem oder Hackenbroich wuchsen insbesondere in den 1960er-Jahren zum Teil in atemberaubender Geschwindigkeit. Bereits existierende Baustrukturen, wie etwa entlang der „Kölner Straße“, veränderten sich.
Der schnelle und starke Anstieg der Zahl der Arbeitsplätze im Werk führte insbesondere nach dem Krieg zu enormem Druck auf den Wohnungsmarkt, dem die damals noch recht kleinen Gemeindeverwaltungen finanziell und planerisch kaum gewachsen waren. Wohnungsbau übernahmen an weiten Stellen dem Werk verbundene Wohnungsbauunternehmen.
Zum jeweiligen Zeitraum allgemeingültige städtebauliche Leitbilder wurden Grundlage auch der Dormagener Entwicklung und sind heute noch in zumeist hoher baulich-räumlicher Qualität im Stadtbild ablesbar: von „Kleinsiedlungsprogrammen“ mit Selbstversorgungsmöglichkeiten auf großen Parzellen und dem „Volkswohnungsbau“ der 1930er-Jahre, der folgenden „Auflösung des Baublockes“ zum „Zeilenbau“, bis hin zu Elementen der „autogerechten Stadt“ der 1950er-Jahre – etwa an der „Salm-Reifferscheidt-Allee“ oder der „Haberlandstraße“ – und einem Leitbild von „Urbanität durch Dichte“ in den 1960er-Jahren.
Der damalige Bürgermeister Franz Gerstner konstatierte, dass in dieser Zeit „etwa 600 bis 700 Neubürgerinnen und Neubürger jährlich hinzukamen“. Doch es war am Schluss nicht nur die große Menge an Wohnungen, die in kurzer Zeit entstanden. Mit geräumigen Grundrissen, Balkonen, Zentralheizung, zentraler Warmwasserversorgung und ausreichend viel Licht und Luft entstand ein baulicher Standard, der zum damaligen Zeitpunkt bei weitem noch nicht selbstverständlich war. Durch ökonomischen Umgang mit Grund und Boden, baulicher Verdichtung und seriellem Bauen wurden insbesondere in den 1960er-Jahren Planungs- beziehungsweise Bauzeiten und nicht zuletzt die Baukosten extrem optimiert. Die Mieten für hochwertigen Wohnraum blieben erschwinglich. Die jeweiligen Bauträger sorgten zudem für die notwendige technische und soziale Infrastruktur. Zeitgleich entstanden Erschließungsstraßen, weiträumige Grünanlagen, Spielplätze und Nahversorgungszentren.
Ein Entwicklungsplan aus dem Jahr 1963 legte zukünftig gar eine Bevölkerungszahl von rund 250.000 Einwohnern „für den Großraum nördlich von Köln“ zugrunde. Ein neu zu errichtendes Stadtzentrum im Bereich der heutigen „Lübecker Straße“ mit einer „Rheinbrückenstraße“ in Ost-West-Richtung und ein Hubschrauberlandeplatz ergänzten diese Vision von ungebrochenem Wachstum und der steigenden Bedeutung von Mobilität und Verkehr.
Es kam anders.
Nach der Ölkrise stagnierte die Belegschaftszahl im Werk Mitte der 1970er-Jahre, allerdings auf hohem Niveau. Seit Jahren war eine Korrelation zwischen der Belegschaft im Werk und der Dormagener Bevölkerungsentwicklung nachweisbar. Die Wohnungsnachfrage konsolidierte sich. Nach und nach entstanden neue Wohngebiete mit geringerer Dichte, etwa in Straberg, Nievenheim oder Stürzelberg – also auch in Stadtteilen, die nicht unmittelbar in der Nähe zum Werk liegen.
Noch Ende der 1960er-Jahre gewann das renommierte Architekturbüro HPP aus Düsseldorf im Rahmen eines Wettbewerbs den ersten Preis zum Neubau des Dormagener Rathauses. Ein 14-geschossiger, terrassenförmiger Baukörper sollte an der Stelle des heutigen Rathauses Urbanität vermitteln – ein modernes Verwaltungszentrum für die neue Stadt Dormagen. Auch dieses Projekt fiel letztlich der bereits erkennbaren Stagnation zum Opfer.
Ab den 1970er- und 1980er-Jahren kam es auch in Dormagen zu einer „Renaissance des Stadtraums“. Denkmalschutz und Stadterneuerung gewannen an Bedeutung. Das Historische Rathaus wurde Denkmal. Mit geändertem Einkaufs- und Freizeitverhalten veränderte sich auch der Anspruch an Stadtraum. Der Bereich um „St. Michael“ beispielsweise wurde mit seiner ausgesprochen hohen innerstädtischen Aufenthaltsqualität wichtiger denn je. Eine neu gestaltete Fußgängerzone mit Bäumen, Sitzbänken und Fahrradstellplätzen verdrängte in den 1980er-Jahren den bis dahin favorisierten motorisierten Individualverkehr.
Kontinuierlich führt der anhaltende Veränderungsdruck auf die Innenstadt, insbesondere im Bereich der Kölner und Krefelder Straße, bis heute zu morphologischer Transformation. Dies ist etwa am Verlauf der Trauflinien ablesbar, der Gliederung und Maßstäblichkeit von Fassaden oder vielfältiger Materialität. Einzig Fluchtlinien und Parzellenstruktur erweisen sich als weitgehend stabil.
Und jetzt?
Dormagen zeigt: Eine Stadt ist nie fertig. Sie passt sich ständig neuen Herausforderungen an. Sie verändert sich, sie wächst, sie wird zurück gebaut, sie atmet.
Und bei all diesen Entwicklungen hat Dormagen insgesamt mit seinen identitätsstiftenden Ortsteilen und Ortsmittelpunkten sowie den verbindenden Grünachsen seine einzigartige Siedlungsstruktur bis heute weitgehend beibehalten können. Eine Struktur mit hoher Qualität und großem Potenzial.
Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen.
Unser Einkaufsverhalten hat Einfluss auf erdgeschossige Ladennutzungen. Flexible Arbeitsmodelle führen zu neuen Bürostrukturen und verändertem Mobilitätsverhalten. Mit der Forderung nach Gleichrangigkeit müssen unterschiedliche Mobilitätsarten in vorhandenen Wegequerschnitten untergebracht werden.
Insbesondere der Druck aus benachbarten Städten erzeugt hohe Wohnungsnachfrage. Der Anspruch an Wohnen führt zu größerem Flächenbedarf pro Person. Gewerbliche Immobilien benötigen zunehmend bauliche Flexibilität. Unser Freizeitverhalten beansprucht qualifizierte Nutzungs- und Aufenthaltsqualität weitgehend zusammenhängender Landschaftsbereiche. Deren hohe ökologische Qualität muss beibehalten, besser noch optimiert werden. Gleichzeitig müssen land- und forstwirtschaftliche Nutzungsmöglichkeiten gesichert bleiben.
Drastisch steigende Anforderungen an Nachhaltigkeit, Umweltschutz, Klimaresilienz und Klimaanpassung fordern Entsiegelung und Retention. Funktionierendes Stadtklima – Durchlüftung, Kühlung, Verschattung – wird mehr denn je zum Standortfaktor. Vollständige Decarbonisierung ist Maßstab einer kommunalen Wärmeplanung von morgen.
Forderungen nach Reduzierung des Flächenverbrauchs etwa durch Blockinnenverdichtung oder Konversion stillgelegter Industrieflächen, Wünsche nach nutzer- und generationengerechter Gestaltung öffentlicher Räume … allesamt ständig komplexer werdende Anforderungen an die Stadt, an Politik, Verwaltung, private Eigentümerinnen und Eigentümer, Nutzerinnen und Nutzer sowie Planerinnen und Planer.
Anforderungen, die allerdings oftmals konkurrieren. Dementsprechend werden Abwägungsprozesse umfangreicher und anspruchsvoller, aber auch anfälliger. Nicht zuletzt muss alles auch für private und öffentliche Investoren finanzierbar sein.
Fand Stadtplanung vor 50 Jahren im Wesentlichen am Reißbrett statt, sind heute umfassende Datenmodelle und „digitale Zwillinge“ Grundlage planerischer Überlegungen. Und je komplexer die Aufgabenstellungen werden, desto höher werden die Ansprüche an Veränderungsgeschwindigkeit, Kommunikation, Transparenz und Partizipation.
Also: Auf in die nächsten 50 Jahre!